Leseprobe "Die Krone der Feen"


 

Sieh genau hin.
Magie trägt die Farben des Regenbogens,
zeigt sich in tausend Schattierungen,
hüllt sich in den Schimmer des Mondlichts,
glitzert wie die Sterne am Firmament
und mischt sich unter die Schatten der Nacht.

 



Kapitel 1

Aryana schlug einmal kräftig mit den Flügeln und es kitzelte in ihrem Bauch, als sie aufwärtstrieb. Der warme Wind strich durch ihr blondes Haar und brachte den zarten Seidenstoff ihres Feenkleides zum Flattern. Am liebsten wäre sie mit geschlossenen Augen weit über die Schlossmauern hinausgeflogen. Dort oben wäre sie nur von Luft und Freiheit umgeben. Allein bei dem Gedanken, durch die tief hängenden Wattewolken zu fliegen, spürte sie die feinen Wassertropfen in ihrem Gesicht. Aber nein. Sie durfte nicht übermütig werden, denn es war nie gewiss, wie lange ihre Magie sie trug. Und wer hoch flog, der fiel auch tief.
Mit einem Seufzen verscheuchte sie ihre Träumereien.
„Aryana!“, donnerte die Stimme des Königs durch die Fenster des Schlossturms in den Innenhof.
Die Schwere, die ihr Herz füllte, ließ sie den Sinkflug antreten. Nach den morgendlichen Lehrstunden war ihr normalerweise ein wenig Zeit für sich vergönnt. Diese war aber zugunsten einer Anprobe gestrichen worden, da an diesem Tag die Zeremonie stattfand. Aryana hatte der Schneiderin jedoch eine Nachricht zukommen lassen, dass das Kleid sicherlich perfekt sitze. Und selbst wenn es zu weit sein sollte, nahm sie das gern in Kauf. Dieser Tag und seine Feierlichkeiten waren ihr ohnehin zuwider.
Vorsichtig ließ sie sich auf einem Zweig der alten Eiche nieder, die einen Großteil des Schlosshofes einnahm, und brachte sich mit einigen Flügelschlägen ins Gleichgewicht. Auf der Suche nach Baba, ihrem kleinen Beutelbären, sah sie sich um. Zwischen zwei Büschen entdeckte sie ihn. Auf dem Rücken liegend und alle viere von sich gestreckt, ließ er sich die letzten Sonnenstrahlen des Sommers auf den Bauch scheinen. Er sollte sich verstecken, ehe einer der Diener hier auftauchte, sonst landete er im Kochtopf.
Sie wollte das gemütliche Bild, das er abgab, nicht stören, daher warf sie einen flüchtigen Unsichtbarkeitszauber über ihn.
Im nächsten Moment trat Frederik, der oberste Diener ihres Vaters, ins Freie. Sein Blick glitt über den Hof und blieb an der Eiche hängen. „Eure Tochter ist auf dem Hof, Eure Majestät“, rief er ins Innere des Schlosses hinein.
Das Schnauben des Königs war durch das Turmfenster zu hören.
Der hagere Hofdiener eilte zum Baum und verbeugte sich ehrerbietend, seine tadelnde Miene hatte aber nichts von einem Untergebenen. Aryana war es gleich. Als Prinzessin wurde sie meist mit Samthandschuhen angepackt, sie bevorzugte es jedoch, wenn die Dienerschaft dieses höfische Getue sein ließ. „Ihr solltet Eure Magie an einem solch wichtigen Tag nicht mit Spielereien ausschöpfen, Prinzessin.“
Sie stieß sich vom Ast ab, flog zu ihm hinüber und landete auf seiner Schulter. Sicher wäre es ratsamer gewesen, sich zurückzuverwandeln, denn ihr Vater durfte nicht sehen, dass sie ihre Pflichten vernachlässigte, um ein wenig herumzuflattern, wie er es nannte. Allerdings schlug der alte Frederik ihr in Feengestalt seltener einen Wunsch ab. Warum das so war, wusste sie nicht genau. Entweder fand er sie einfach possierlich, oder er hatte Mitleid mit Naturwesen, wie sie eines war.
„Drei Karamellplätzchen für Eure Verschwiegenheit?“ Aryana grinste.
Frederik schnalzte mit der Zunge und reckte das spitze Kinn. „Eure Verpflichtungen eigenmächtig abzusagen ist ein schwerwiegendes Vergehen. Euer Vater wurde natürlich umgehend unterrichtet“, sagte er noch nasaler als sonst.
Melodramatik war seine Art, den Preis in die Höhe zu treiben, also ließ Aryana sich mit einem gespielten Seufzen auf das Feilschen ein. „Zweifelsohne wird mein Vater nur schwer davon zu überzeugen sein, dass mich ein Anflug von Schwäche überfallen hat und ich im Garten frische Luft schnappen musste. Für ein solch mühsames Unterfangen sind meiner Meinung nach sogar vier Plätzchen angebracht.“
Zögerlich wiegte er den Kopf hin und her. „Aber was, wenn der König die Lüge durchschaut? Nicht auszudenken, eine der Hofdamen hätte Euch beim Fliegen beobachtet.“
Aryana tippelte näher an sein Ohr heran. „Habt Ihr schon einmal die leckere Tarte probiert, die auf den Feierlichkeiten nach der Zeremonie serviert wird?“, flüsterte sie. „Von außen ist sie fluffig und wenn man sie aufsticht, zerrinnt der Kern aus Schokolade.“
Frederik schluckte. „Dieses kulinarische Vergnügen wurde mir bislang nicht zuteil.“
„Vielleicht ließe es sich ja heute einrichten.“
Frederik schielte zu ihr hinüber. „Mit ein wenig Sahne?“
Ein Grinsen stahl sich auf Aryanas Lippen. „Selbstredend.“
Mit einem knappen Nicken war ihr Geschäft besiegelt. „Nun aber husch, husch. Nicht dass Euer Vater Euch noch als Fee sieht.“ Frederik schüttelte seinen Oberkörper und brachte sie damit ins Straucheln.
Aryana hob ab und konzentrierte sich auf die Magie in ihrem Bauch. Kaum war sie vor Frederik gelandet, schwanden ihre Flügel. Unter einem silberweißen Funkeln wurde sie groß und nahm ihre menschliche Gestalt an. Anstelle ihrer luftigen Feenbekleidung trug sie wieder das jadegrüne Tageskleid aus Samt, das sie am Morgen angelegt hatte. Der Stoff war unangenehm starr und der schwere Reifrock zog sie nach unten.
Ihre Verwandlung war keine Sekunde zu früh gekommen, denn ihr Vater schritt mit wehendem Umhang auf den Schlosshof. Aryana straffte die Schultern, sah prüfend an sich hinab und warf eilig eine Illusion über den Soßenfleck vom Mittagessen, der auf ihrem Rock prangte. Ein paar weiße Funken stoben auf und er wurde unsichtbar. Eine dauerhafte Entfernung würde sie zu viel Magie kosten, weshalb sie darauf verzichtete.
Ihr Vater kam vor ihr zum Stehen und betrachtete sie anklagend. „Was tust du hier?“
Unmutig beäugte Aryana die Krone, die bereits auf seinem Haupt saß. Vor der Zeremonie, an der das Volk seine Magie vom König erhielt, setzte er sie stundenweise auf, denn er musste sich jedes Mal aufs Neue an ihre Macht gewöhnen. An diesem Tag war er damit jedoch früh dran.
Das gewaltige Ausmaß der Magie, die der Krone innewohnte, verlangte ihm sehr viel ab. So war er stets übellaunig, sobald er sie trug, und ein Versuch, sich wegen ihrer ergaunerten Pause herauszureden, dürfte seiner Stimmung nicht zuträglich sein. Die roten Flecken an seinem Hals verhießen zumindest nichts Gutes.
Frederik trat ihrem Vater tapfer entgegen und kam dessen Donnerwetter mit einem Räuspern zuvor. „Ich werde veranlassen, dass Prinzessin Aryana eine Stärkung gebracht wird, Eure Majestät. Eure Tochter ist vor Aufregung geschwächt und kämpft mit ihren Nerven. Sie erhoffte sich hier draußen ein wenig Erholung, doch selbst die frische Luft und der kühle Schatten konnten ihr nicht helfen. Kaum verwunderlich an einem so wichtigen Tag.“
Bei der Erinnerung an ihren großen Auftritt am Abend schlug ihr Widerwillen augenblicklich zu. Aryana ließ sich aber nichts anmerken.
Der König beäugte erst seinen Diener, dann seine Tochter. Seine Augen waren wie so oft voller Missbilligung. „Du musst deine Nerven in den Griff bekommen.“
Mühsam verkniff Aryana sich die Äußerung, dass er seine Nerven selbst oft nicht im Griff hatte. Nur vor dem Volk war er stets beherrscht und vermittelte ein Bild der Stärke. Sobald er vor die Öffentlichkeit trat, war seine ständige Erschöpfung verschwunden, die seine unermüdliche Arbeit nach sich zog, genau wie der Jähzorn, der daraus resultierte.
„Sehr wohl.“ Aryana knickste und hoffte, dass er es dabei beließ. Dieses Gespräch wäre schon ohne die Krone auf seinem Haupt schwierig geworden, mit sollte sie tunlichst den Mund halten. Anstatt sich also in Widerworten zu üben, lächelte sie und dachte an ein Leben an einem abgeschiedenen Ort fernab des Hofes, an dem es vielleicht noch Blumen gäbe, rote Traumveilchen, wie sie einst in diesem Schlosshof gestanden hatten. Vor ihrer Krönung würde sie fortgehen und diesen finden.
„Wenn du eines Tages regierst, musst du Kraft und Ruhe ausstrahlen, damit das Volk dich respektiert“, holte ihr Vater weiter aus.
Aryana senkte das Kinn. „Natürlich.“ Obwohl sie diese Predigt in der ein oder anderen Form regelmäßig zu hören bekam, verlor sie nicht an Schrecken. Am liebsten hätte sie erwidert, dass sie nicht plane, in seine Fußstapfen zu treten. Es wäre besser, er gäbe ihrer kleinen Schwester den Vorzug. Im Gegensatz zu Aryana war Rose pflichtbewusst und zur Freude ihres Vaters stets auf einen guten Eindruck bedacht. Aryana hatte einmal eine Andeutung in diese Richtung fallen lassen und ihr Vater war aus der Haut gefahren. Er hatte sie zurechtgewiesen und ihr tägliches Lernpensum weiter erhöht, damit sie weniger Zeit für solche Flausen hatte. Magie hatte sie daraufhin lange keine mehr von ihrem Vater erhalten, was die schlimmste Strafe gewesen war. Seither ließ sie ihn in dem Glauben, das Thema sei erledigt. Schon bald hätte sie aber ausreichend Magie gesammelt, um den Hof verlassen zu können. War sie erst einmal fortgegangen, blieb ihm nichts anderes übrig, als Rose in der Thronfolge zu berücksichtigen.
„Heute Abend wirst du das Zeremoniell eröffnen und dabei Stärke demonstrieren.“ Er hatte sich so in Rage geredet, dass sein Hautton die Farbe einer reifen Tomate angenommen hatte, was reichlich komisch aussah. Ihr Vater war ein Mensch, weshalb er in seinem Alter eigentlich grau und faltig aussehen müsste. Er hatte mit dreißig Jahren jedoch seinen Alterungsprozess mittels der Magie gestoppt, die er von der Krone bezog. Oft hörte sie Stimmen, dass er ein gutaussehender Mann sei. In diesem Moment befand Aryana allerdings, dass von Attraktivität nicht die Rede sein konnte.
„Ich werde mein Bestes geben.“ Wobei ihr alles andere als wohl dabei war, sich als künftige Königin zu präsentieren.
Mit einem Räuspern nahm er sich zurück. „Beherrschst du den Zauber für den Abend?“
„Er wird mir gelingen.“ Aryana sollte an seiner statt die Zeremonie mit dem traditionellen Feuerwerk beschließen. Sie empfand diesen Brauch als verschwenderisch, denn sie könnte weiß Gott Besseres mit dieser Magie anfangen, als Blitze über den Himmel zucken oder Funken über die Köpfe der Zuschauer rieseln zu lassen. Das Volk liebte diese Inszenierung aber. Somit hatte Aryana seit Wochen im Magieunterricht für diese Aufgabe geübt und ihr gelang bereits ein prächtiger weißer Funkenregen. Anscheinend hatte es früher einmal bunte Feuerwerke gegeben, in einer längst vergangenen Zeit. Das zeigte, wie groß einst die Magie in Oritea gewesen sein musste. In diesen Tagen brachte allerdings selbst ihr Vater, der mit der Krone die Quelle der Magie auf dem Kopf trug, nur ein weißes Spektakel zustande. Nach diesen Übungseinheiten war Aryana immer so erschöpft gewesen, dass ihre Magie Stunden gebraucht hatte, um sich von der Verausgabung zu erholen. Zwar verfügte sie mittlerweile über einen soliden Grundstock, dennoch konnte sie damit keine großen Sprünge machen.
„Mit Verlaub.“ Frederik verneigte sich und wartete, bis ihr Vater ihm mit einer wirschen Geste zu verstehen gab, dass er fortfahren durfte. „Vielleicht solltet Ihr Eurer Tochter ein wenig Magie für diesen Abend spenden, um einen reibungslosen Ablauf sicherzustellen.“ Seine gehobene Braue und der kurze Seitenblick in Aryanas Richtung besagten, dass sie ihm mindestens einen weiteren Keks schuldete, sollte sein Einwand von Erfolg gekrönt sein. Sie machte gedanklich drei daraus. „Nun, wo Ihr die Krone schon tragt …?“
Die Hautfarbe des Königs normalisierte sich glücklicherweise und er betrachtete Aryana mit Argusaugen. Sie tat ihr Bestes, möglichst erschöpft und kränklich auszusehen. Während sie überlegte, ob ein leichtes Taumeln zu viel des Guten wäre, lenkte der König bereits ein. „Es ist wichtig, dass dein Auftritt heute Abend tadellos ist.“ Er nahm seine Tochter ins Visier und nickte nach einigen Sekunden. Wie immer spürte sie nichts, wenn er ihr mithilfe der Krone Magie verlieh. Da war kein Kribbeln oder Ziehen. Die neue Kraft merkte Aryana erst, sobald sie sie einsetzte.
„Enttäusche mich nicht.“
„Das werde ich nicht.“ Aryana blickte zu Boden. Natürlich freute sie sich über dieses unverhoffte Geschenk, es hatte aber einen faden Beigeschmack. Doch so war es immer. Ein Tauschhandel, Magie gegen Gehorsam.
Ihr Vater wandte sich zum Gehen, da trat ihm Herzogin Eliana mit ihrem Gefolge in den Weg. Sie kam zweimal im Monat aus der Provinz Enomur in die Hauptstadt. Dabei war es wohl weniger die Zeremonie als das Fest danach, das sie anlockte. „Wertester Cousin.“ Die Herzogin sank in eine formvollendete Verbeugung, bei der die unzähligen Schichten ihres zartrosa Kleides vornehm raschelten.
„Eliana.“ Sein Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihn aufhielt. Für Zwischentöne, und seien sie noch so laut vorgetragen, war Herzogin Eliana aber seit jeher unempfänglich. „Wir unterhielten uns gerade darüber, wie spektakulär es wäre, würde Prinzessin Aryana den Menschen am heutigen Abend als Fee in Erscheinung treten.“ Ihre vier Hofdamen taten ihre Begeisterung hinter vorgehaltener Hand kund. „Die Menschen würden es lieben. Naturwesen sind ja nahezu ausgestorben und man sieht sie nicht mehr aller Tage“, fuhr die Herzogin fort und brachte den König damit wider Erwarten zum Nachdenken. Dabei entsprach ihre Aussage nicht ganz der Wahrheit. Ja, die Magiequellen in den Wäldern Oriteas versiegten und ein paar Gattungen waren deswegen fast ausgestorben, denn Naturwesen konnten ohne Magie nicht überleben. Es gab aber noch Elfen, Trolle, Gnome, Goblins und viele magische Tiere da draußen. Und auch wenn das kleine Volk, dem Aryana entstammte, ebenfalls dezimiert war, so begegnete man dennoch hier und da einer Fee.
„Ich werde es in Erwägung ziehen.“ Ihr Vater bahnte sich einen Weg durch ihre Hofdamen.
Aryana wusste, dass dies seine höfliche Art war, sich einer Unterhaltung ohne ein klares Nein zu entziehen. Herzogin Eliana begriff das nicht und heftete sich an seine Fersen. „Ich habe denselben Weg.“ Vermutlich war sie bei Aryanas Stiefmutter zum Tee geladen. Die beiden Frauen waren befreundet und tauschten mit Vergnügen den neuesten Tratsch aus.
Mit tippelnden Schritten folgte sie dem König. „Die kritischen Stimmen werden allmählich lauter. Ich sage es ungern, doch selbst in unserer unbedeutenden Provinz erstarken die Rebellen.“
Die Herzogin musste einen ausgeprägten Hang zur Gefahr haben oder einfach nur töricht sein, wenn sie ihn darauf ansprach, während er die Krone trug. Aryana tippte auf Letzteres.
Der König stieß ein Grollen aus, wegen ihrer Hartnäckigkeit oder des Themas an sich.
„Die Ernten fallen von Jahr zu Jahr schlechter aus“, fuhr Herzogin Eliana unbeirrt fort, „und die Magiequellen neigen sich dem Ende zu.“
„Das zu ändern, obliegt nicht meiner Macht.“
Und das stimmte. Der Rückgang der Magie hatte schon weit vor dem Herrschaftsantritt ihres Vaters begonnen. Niemand wusste, woran es lag, und trotz aller Bemühung fand man keine Ursache. Manche behaupteten, ein Fluch laste auf dem Land, andere glaubten, das langsame Versiegen der Magiequellen sei nach all den Jahrtausenden normal.
Ihr Vater hatte es nicht leicht, Oritea zu regieren. Je weiter die Magie verschwand, desto angespannter wurde die Situation der Naturwesen, die einen beachtlichen Anteil an der Bevölkerung ausmachten. Mit der Geburt erhielten sie alle einen Grundstock an Magie und wenn sie zu viel zauberten und diesen verbrauchten, dauerte es eine Weile, bis er sich wieder füllte. Mit zunehmendem Alter wurde diese Regeneration immer schwieriger. Früher hatten die Quellen, die über das ganze Land verteilt waren, die Naturwesen dabei unterstützt und sie zusätzlich mit Magie versorgt. Seit dies nicht mehr geschah, entwickelten die meisten Naturwesen im Jugendalter die ersten Schwäche-Erscheinungen, die sich im Laufe weniger Jahrzehnte zu allgemeiner Kraftlosigkeit ausweiteten und letztlich im Tod mündeten. Die Tiere in den Wäldern waren aufgrund des Magiemangels gereizt und angriffslustig, was ein weiteres Problem darstellte. Genau wie die Auswirkungen auf die Natur, die ebenfalls auf Magie angewiesen war. Die Ernten fielen von Jahr zu Jahr knapper aus und es gab kaum noch Blumen in Oritea. Mit der Krone verfügte ihr Vater über die letzte intakte Magiequelle im Land und allein er entschied, wer in ihre Gunst kam. Und auch wenn er Aryana aus erzieherischen Gründen mit nur wenig Magie ausstattete, so wusste sie um dieses Privileg. Sollte sie eines Tages jedoch gegen den Willen ihres Vaters den Hof verlassen, blühte ihr dieselbe Zukunft wie allen Naturwesen. Mit der Magie, die sie bis dahin angehäuft hatte, konnte sie zuvor allerdings ein paar wunderschöne Jahre verbringen. Das zog sie einer lebenslangen Gefangenschaft, die die Thronfolge für sie darstellte, allemal vor.
„Auch wenn Ihr das Leid nicht verantwortet, so wäre es unter Umständen ratsam, auf die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung zu reagieren. Sie ist der perfekte Nährboden für die Forderungen der Rebellen.“
Abrupt hielt ihr Vater an. „Und wie stellt Ihr Euch das bitte vor? Soll ich mit Magie um mich werfen, um das Volk für den Moment glücklich zu machen? Dann wäre die Quelle der Krone spätestens in Aryanas Amtszeit aufgebraucht. Ich muss haushalten und entscheiden, wer der Magie würdig ist.“ Das war ein schwieriges und ziemlich ungnädiges Unterfangen, wie Aryana wusste.
Ohne auf die Antwort der Herzogin zu warten, ging er weiter.
Die lief ihm erneut hinterher. „Es könnte der Stimmung zuträglich sein, die künftige Herrscherin in ihrer Naturgestalt zu präsentieren.“ Sie malte einen Kreis in die Luft, als würde sie diese Zukunft genau vor sich sehen. „Es wäre ein Zeichen, dass schon bald eine neue Ära anbricht.“
Schon bald? Aryana hoffte, dass sie von Jahren sprach und nicht von Monaten. Ja, sie hatte ihr fünfundzwanzigstes Lebensjahr vollendet und ihr Vater war im selben Alter angetreten. Und ja, die stetige Erschöpfung ihres Vaters verlangte nach einer schnellen Ablöse. Sie brauchte aber noch Zeit, um sich auf ihren Weggang vorzubereiten. Außerdem stellte sich die Frage, was Herzogin Eliana mit einer neuen Ära meinte. Zwar war Aryana ein Naturwesen, doch sie konnte dem Naturvolk genauso wenig helfen wie ihr Vater. Unzählige Gelehrte hatten sich bereits an dem Problem mit der schwindenden Magie abgearbeitet, da konnte sie es bestimmt nicht lösen, Fee hin oder her.
Die Herzogin und der König hatten fast die Tür zum Turm erreicht und Aryana spitzte die Ohren, um die Antwort ihres Vaters zu hören. „Es ist kein Geheimnis, dass Aryana dem kleinen Volk entstammt. Sie alle wissen, wer die nächste Königin wird.“
„Und dennoch soll sie sich stets als Mensch präsentieren. Warum spielt Ihr nicht diese Saite des Instruments?“
Aryana ahnte, warum. Er mochte ihre andere Gestalt nicht. Sie war ihm zu zerbrechlich, zu klein … zu schwach. Dabei fühlte sie sich so viel kraftvoller als Fee. Oder es lag daran, dass ihn ihre Feengestalt an ihre Mutter, die einstige Königin, erinnerte.
Die Klinke bereits in der Hand hielt der König inne. Nach einigen Sekunden sah er Herzogin Eliana an. „Vielleicht habt Ihr recht.“ Er wandte sich zu Aryana um. „Am Ende der Zeremonie wirst du dich verwandeln. Kurz vor dem Feuerwerk“, rief er ihr über den Hof zu.
Aufregung durchflutete ihren Körper. Einerseits verlieh ihr die Vorstellung, ihr wahres Ich zeigen zu dürfen, Kraft. In Feengestalt war sie ganz sie selbst. Andererseits könnte Aryana sich von da an nicht mehr unbemerkt in der Stadt herumtreiben, denn bislang war nur ihr menschliches Aussehen der Bevölkerung bekannt. In ihrer Feengestalt hatte sie zwar kein gänzlich anderes Gesicht, ihre Züge waren jedoch weicher, ihre Nase stupsiger und ihre Augen blauer. Ja, sie erregte auch so eine gewisse Aufmerksamkeit. Immerhin verfügte ihresgleichen kaum mehr über genügend Magie, um sich zu verwandeln oder gar zu fliegen, weshalb die meisten nur noch in ihrer menschlichen Form lebten. Es dachte aber niemand an die Prinzessin, wenn sie als Fee gesichtet wurde, da es einfach zu abwegig war. Von diesem Abend an würde sich das wohl ändern. Nun war es jedoch zu spät, um Einspruch zu erheben, denn ihr Vater war bereits im Schloss verschwunden.
Kurzerhand griff sie nach der neu gewonnenen Magie in ihrem Inneren. Sie konnte nicht erwarten, sie auszutesten. „Ich bin pünktlich zum Naturkundeunterricht wieder da, Frederik.“ Eilig erneuerte sie den Unsichtbarkeitszauber über Baba und sah gen Himmel.
„Die Anprobe des Kleides …“, sagte Frederik, doch Aryana rannte los.
Ein Prickeln sammelte sich in ihrem Bauch und bahnte sich von dort seinen Weg bis in ihre Zehen- und Fingerspitzen. Weiße Funken säumten den Weg hinter ihr und stoben durcheinander, als sie sich verwandelte und vom Boden abhob. „Mein Vater hat mich nicht angewiesen, zur Schneiderin zu gehen“, rief sie im Fliegen über die Schulter. Zugegeben, nach dem Vortäuschen eines Schwächeanfalls war es vermutlich nicht ihre beste Idee, in der Luft herumzutollen. Ihr Vater war aber sicher längst in seine Verpflichtungen eingebunden und der Großteil des Hofpersonals war ihr wohlgesinnt und würde sie nicht verraten.
Aryana streckte die Arme aus, um den Wind zu spüren, der durch ihre gespreizten Finger strich, und schlug eine Pirouette. Dann nahm sie Kurs auf die alte Eiche, wich den Blättern aus und sauste um die Äste, bis ihr schwindelig war. Ob sie es wagen konnte, höher zu steigen? Vielleicht nicht bis in die Wolken, aber einen Blick auf die Stadt zu werfen, sollte möglich sein.
Kurzentschlossen stob sie durch die Baumkrone hinauf gen Himmel, flog im hohen Bogen zu der Schlossmauer und ließ sich zwischen zwei Zinnen nieder, um das Treiben zu bestaunen. Rote Dächer reihten sich aneinander und trotzten der Tristesse der sonst grauen Stadt, kleine Farbtupfen säumten die Gehwege – Bürger in ihrer besten Ausgehtracht, die sich für diesen besonderen Tag herausgeputzt hatten. Trödelhändler feilschten um ihre Waren, die Kutschen der Anreisenden verstopften die Straße und vor der Taverne hatte sich eine Schlange gebildet. Die meisten waren Menschen, aber auch einige Elfen mischten sich darunter.
Hier in der Hauptstadt Pateria war die Situation für Naturwesen weniger angespannt, denn sie kamen in die Gunst der Krone. Dafür mussten sie allerdings ein bürgerliches Leben führen. Ein Großteil fügte sich gut in die Gesellschaft ein. Ja, manche heirateten sogar Menschen und bekamen Kinder mit ihnen. Andere waren in die Nachbarländer ausgewandert. Zwar waren die Magiequellen der anderen Reiche noch intakt, das Leben hielt dort jedoch andere Herausforderungen bereit, weshalb viele davor zurückschreckten.
Aryana entfuhr ein Seufzen, während sie das Treiben unter sich beobachtete. All diese Menschen und Elfen würden sich heute auf dem Marktplatz einfinden, um der Zeremonie beizuwohnen. Und sie alle würden ihrer Rede lauschen. Bei der Vorstellung wurde ihr ganz flau im Magen.
Eine blaue Libelle neben ihr ließ sie innehalten. Sie schwirrte davon, hinein in den nahe gelegenen Park, und wanderte weiter über einen Teich bis hin zu den Linden. Das wird doch nicht …?
Ohne zu zögern, stand Aryana auf, stieß sich ab und legte die Flügel eng an, um möglichst schnell in den Stadtgarten hinunterzusausen.

 



Kapitel 2

Aus einigen Metern Höhe suchte Aryana den Park ab. Da. Über den Sträuchern. Sie flog hinterher und aus der Nähe wurde ihre Vermutung bestätigt. Was machte eine Wunschlibelle mitten in der Stadt? Würde sie entdeckt, wären die Menschen hinter ihr her, um sie zu fangen. Sie musste einen Weg finden, sie zu verscheuchen.
Als Aryana die Verfolgung aufnahm, lag ihr ganzer Fokus auf der Libelle. So sah sie den Elfen zu spät, der in ihre Flugbahn trat. Sie konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen und prallte mit einem Ächzen an seiner Brust ab. Seltsamerweise wurde ihr nicht schwarz, sondern grün vor Augen. Unliebsam plumpste sie auf den Boden und blinzelte, bis sich diese kräftige Farbe, die sie an feuchtes Moos erinnerte, zurückzog. Was war das bitte gewesen?
Sie vernahm ein Lachen und legte den Kopf in den Nacken. „Das ist nicht lustig“, schimpfte sie und ärgerte sich gleich noch mehr, weil der Kerl bei ihrem Grummeln in ein umso lauteres Gelächter verfiel.
„Doch, irgendwie schon.“ Er schüttelte sich abermals, während er sich suchend umsah. Das legte die Vermutung nahe, dass ihr Zusammenstoß kein Zufall gewesen war. Er hatte verhindern wollen, dass sie sich die Wunschlibelle schnappte, weil er sie für sich haben wollte.
Glücklicherweise schwirrte sie nun etwas weiter weg über einem der Teiche, die früher einmal wundervolle Seerosen beherbergt hatten. Aus dem Augenwinkel verfolgte Aryana den Pfad der Libelle. Leider verschwand sie nicht, stattdessen blitzten hier und da ihre kobaltblauen Flügel auf.
„Darf ich helfen?“ Der Elf bückte sich und bot ihr den kleinen Finger dar, damit sie sich daran hochziehen konnte.
Sie ignorierte ihn, rappelte sich umständlich und wenig feenhaft auf und flog auf die Höhe seines Gesichts. „Warum stellst du dich mir in den Weg?“
Der Elf zog eine Augenbraue hoch. „Warum fliegst du in mich hinein?“
Sie sah ihn das erste Mal richtig an und das Gefühl überkam sie, ihn von irgendwoher zu kennen. Aryana betrachtete ihn genauer. Schönheit war den Elfen in die Wiege gelegt, mit ihren ebenmäßigen Zügen, den dichten Wimpern und der blassen, leicht schimmernden Haut. Selbst die spitzen Ohren, die aus seinen kurzen dunkelbraunen Haaren herauslugten, hatten etwas Erhabenes. Ihr Körper reagierte auf sein beachtliches Aussehen. Je länger sie ihn musterte, desto mehr verpuffte der Ärger in ihrem Bauch und machte einem sanften Flattern Platz. Seine Ausstrahlung war wirklich … Ein Kläffen riss sie aus diesem absonderlichen Anflug von Bewunderung und Aryana erinnerte sich daran, warum sie verärgert gewesen war. Die Wunschlibelle. Und sein Versuch, sie aufzuhalten. Von seinem Lachen ganz zu schweigen.
Ihr Ärger schwoll aufs Neue an, verzog sich aber bei dem Anblick des kniehohen weißen Fellknäuels zu seinen Füßen. „Oh Gott.“ Sie schlug die Hände an die Wangen. „Ist das ein Kockerhasel?“ Sie kannte diese Gattung aus dem Naturkundeunterricht, war einem solchen Mischwesen mit dem Körper eines Hundes und dem Kopf eines Hasen jedoch nie begegnet. Angeblich konnten sie die Zukunft voraussagen. Allerdings verstand kaum jemand ihre Weissagungen, da man über genügend Magie verfügen musste, um mit Tieren sprechen zu können. Ihr Vater wäre vermutlich dazu in der Lage, nur interessierte ihn solcher Hokuspokus nicht.
Aryana flatterte tiefer und hielt dem Kockerhasel, der viel größer als sie war, die Hand hin. Ohne Umschweife machte er sich daran, sie zu beschnuppern, und ehe sie sich versah, landete seine übergroße Zunge in ihrem Gesicht. „Ach herrje.“ Aryana kicherte und obwohl sie Lust hatte, ihn unter den flauschig aussehenden Löffeln zu streicheln, flog sie lieber aus seiner Reichweite. „Bist du ein Mädchen?“
Da sie keine Ahnung hatte, ob das folgende Kläffen ja oder nein bedeutete, hob sie den Kopf und begegnete dem Blick seines Herrchens. Wenn der Elf sich nicht gerade über sie belustigte, wohnte seinen Augen etwas angenehm Freundliches inne. Für einen Moment verlor sie sich in ihnen und fühlte sich dabei … seltsam wohl.
Nach einigen Sekunden beendete er ihren Augenkontakt. „Ja, ähm, ein Mädchen.“ Sichtlich verwirrt musterte er seinen Kockerhasel. „Sie schließt für gewöhnlich nicht so schnell Freundschaft. Clairy scheint dich zu mögen.“
Aryana genoss die unförmliche Anrede des Elfen. Er hatte nicht den blassesten Schimmer, wer sie war. Und Aryana hatte nicht vor, das zu ändern.
Sie stieg auf die Höhe seiner Nase. „Und hat das bei einem Kockerhasel eine tiefere Bedeutung? Wird mir etwa eine große Zukunft zuteil?“
Das neuerliche Lachen des Elfen klang nach Musik, melodisch und fließend. „Könnte man meinen, nicht wahr?“ Trotz seiner Heiterkeit lag etwas Nachdenkliches in seiner Miene.
Noch immer überlegte sie, woher sie sein Gesicht kannte. Vermutlich hatte sie ihn schon einmal auf einer Zeremonie gesehen. „Bist du ein zurückgekehrter Wandersmann?“ Eigentlich hätte sie nicht fragen müssen. Dass es so war, lag auf der Hand. Wenn sie den Elfen jedoch in ein Gespräch verwickelte, konnte sie ihn vielleicht so lange aufhalten, bis sich die Libelle verzogen hatte.
Ihr Gegenüber legte den Kopf schief. „Wie kommst du darauf?“
Die Libelle flog direkt an ihnen vorbei, weshalb Aryana beschloss, ihn mit einem längeren Monolog abzulenken. „Die Elfen, die sich in der Stadt niedergelassen haben und ein bürgerliches Leben führen, passen sich für gewöhnlich den Kleidungsgepflogenheiten der Menschen an, also bist du keiner von ihnen. Deinen smaragdgrünen Augen zufolge bist du ein Waldelf und die schlichte Kleidung mit dem Lederwams zeugt von einem Leben in den Wäldern.“ Sie setzte ihre Ausführungen fort, doch mit jedem Wort schien er ihr weniger zuzuhören und auch sein Blick huschte umher. Vermutlich überlegte er bereits, ob er den Wunsch der Libelle für sich beanspruchen oder sie einsperren und meistbietend verkaufen sollte. Er würde einiges Geld dafür erhalten, denn im Gegensatz zu anderen Wünschelwesen, die kleinere Ansinnen erfüllten, konnte eine Libelle dem Schicksal eine größere Wendung geben. Da sie bei Ausführung des Wunsches starb, würde Aryana das jedoch zu verhindern wissen.
„Wo bist du mit deinen Gedanken?“, forderte sie seine Aufmerksamkeit wieder ein, obwohl sie das Gespräch allmählich beenden sollte, denn das Fliegen zehrte an ihren Kräften. Sich auf Augenhöhe mit dem Schönling zu halten wurde anstrengend. Verwandeln wollte sie sich dennoch nicht. Er würde sie womöglich erkennen.
Der Elf riss sich von dem Objekt seiner Begierde los. „Entschuldige. Sprich weiter.“
Sie betrachtete ihn ausgiebig. Sein Teint war blass, aber gesund, und seine hochgewachsene, muskulöse Statur war die eines Mannes, der sich körperlich betätigte. „Außerdem weist deine äußerliche Konstitution darauf hin, dass du über reichlich Magie verfügst“, sinnierte sie weiter. Man sah selten einen Elfen in seinem Alter, der derart kräftig war und nicht ein Anzeichen von Magiemangel aufwies. „Wandersleute werden vom König mit viel Magie entlohnt. Demnach wirst du einer von ihnen sein.“
Das Beschreiten der Pfade hatte seit Jahrhunderten Tradition in Oritea und Wandersleute waren einst hochgeachtet gewesen. Dieser Brauch fand seinen Ursprung in einer Zeit, in der noch mehr Nachtwölfe in den Wäldern gehaust hatten. Diese dunklen Tiere, die ausschließlich bei Nacht oder im Schatten leben konnten, waren seit jeher eine Gefahr für die Menschen und hatten regelmäßig die Stadt angegriffen. Die Wandersleute, wie sie beschönigend genannt wurden, beschritten die Pfade, um diese zu töten. Früher waren Kämpfer losgezogen, zwischenzeitlich war das Unterfangen wahrhaftig zu einer Wanderung verkommen, da die Nachtwölfe kaum mehr eine Bedrohung darstellten. Die meisten von ihnen waren in das Nachbarland Nasca umgesiedelt. Dort waren die Nächte länger als in Oritea, was ihrem Bedarf an Dunkelheit sehr entgegenkam. Dafür wurden hier andere magische Tiere zur immer größeren Gefahr: Basilisken, Goblins, Faune, Gorgonen, um nur ein paar zu nennen. Ja, sogar ein paar Hippogryphe trieben da draußen ihr Unwesen. Der Mangel an Magie reizte sie und in ihrer Verzweiflung überfielen sie vermehrt Wandersleute und auch die Stadt sah sich zuletzt mit einigen Angriffen konfrontiert. Also verlagerte sich die Aufgabe der Wandersleute zunehmend auf diese Bedrohung.
Der Elf schien über ihre Worte nachzudenken, ehe er antwortete. „Deine Gedankenkette ist schlüssig. Ich kann dir aber versichern, dass ich keiner derer bin, die sich vom König abhängig machen. Und du tätest gut daran, das ebenfalls nicht mehr zu tun. Eine Fee, die fliegen kann. Da fragt man sich, auf welche Weise du dir die Magie des Königs verdient hast?“ Die intensive Art, mit der er sie musterte, ließ erahnen, auf was er anspielte.
Clairy bellte und irgendwie klang es vorwurfsvoll.
„Wenn du auf irgendwelche unehrenhaften Dienste anspielst, so muss ich dich unterrichten, dass du falschliegst.“ Seit Jahren hielt sich das Gerücht, der König würde sich Mätressen halten, die ganz oben in seiner Gunst stünden. Nicht nur einmal hatte sie es aufgeschnappt, wenn sie das Dienstpersonal belauscht hatte. Das war jedoch vollkommen an den Haaren herbeigezogen. Ja, seine Ehe mit ihrer Stiefmutter war vielleicht nicht von tiefer Liebe geprägt, dennoch war er ein anständiger Mann.
„Ich hatte an eine Hofdame gedacht. Ich kann an dieser Aufgabe nichts Unehrenhaftes finden.“ Der Elf grinste über beide Ohren und Aryana musste feststellen, dass es sein Gesicht in ein wahres Kunstwerk verwandelte. Sogleich schalt sie sich für diesen Gedanken. Ein Kunstwerk. Wo kam das nun her?
„Sehr wohl. Dies ist ein guter Beruf“, pflichtete Aryana ihm bei und ließ ihn damit in dem Glauben, sie sei eine Hofdame. Sie konnte schlecht zugeben, dass ihr einziger Verdienst darin bestand, als Tochter des Königs bestmöglich nach seiner Pfeife zu tanzen. Als Hofdame verdiente eine Fee zwar niemals genug Magie, um fliegen zu können, das wusste er aber offenbar nicht.
Als die Libelle über ihre Köpfe hinwegsauste, täuschte Aryana einen kleinen Hustenanfall vor. Dabei vernachlässigte sie für einen Moment ihren Flügelschlag und sackte ruckartig ab. Sofort schnellte seine Hand vor, um sie aufzufangen, und sie prallte unsanft mit dem Hintern gegen die Handfläche. Ein seltsamer Blitz durchzuckte sie und wie bei ihrem Zusammenprall war auf einmal alles grün. Unzählige Schattierungen ein und derselben Farbe tänzelten vor ihren Augen, doch sie sah schnell wieder klar. Das Gute an dieser Situation war: Dieser Kerl war zu abgelenkt, um auf die Libelle zu achten. Das Schlechte: Diese unvermittelte Nähe überforderte sie. Da war dieser betörende Duft nach Kiefern und Tannennadeln. Und ja, es war lediglich seine Hand. Wenn man ihre Größe bedachte, war das allerdings viel Haut, der sie sich ausgesetzt sah. Um ihn möglichst wenig zu berühren, verzichtete sie darauf, sich beim Aufstehen abzustützen.
„Alles in Ordnung, kleine Fee?“
Eilig flatterte sie zurück auf die Höhe seines Gesichts. „Ja. Natürlich.“ Ihre Stimme klang fiepsig, weshalb sie sich räusperte. „Ich muss allmählich mit meiner Magie haushalten“, brachte sie deutlich gelassener hervor und das war nicht gelogen. Ihre Feenform aufrechtzuerhalten, forderte zu viel ihrer Kraft ein – und das, obwohl ihr Vater ihr soeben erst Magie geschenkt hatte. Bei diesem Gedanken erinnerte sie sich an die Worte des Elfen: Ich kann dir aber versichern, dass ich keiner derer bin, die sich vom König abhängig machen. „Und woher sonst hast du deine Magie, wenn nicht vom König?“ Eine andere Erklärung fiel ihr nämlich beim besten Willen nicht ein, außer … Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Halt, es gab eine andere Erklärung. Sie hatte von den Bediensteten aufgeschnappt, dass die Rebellen seit jüngster Zeit über ihre eigene Magiequelle verfügten. Es wurde erzählt, dass es sich dabei um einen Ring handle. Dieser könnte ihn ebenfalls mit Magie ausstatten.
Aber nein. Sie hatte ihren Vater darauf angesprochen und er hatte das als unsinniges Geschwätz abgetan. Außerdem war die Wahrscheinlichkeit verschwindend gering, ausgerechnet einem Rebellen in die Arme zu laufen.
Der Elf winkte ab. „Ach, so viel Magie, wie du vermutlich annimmst, trage ich gar nicht in mir.“
Nun wurde sie doch wieder misstrauisch. Würde ein Rebell nicht genau das behaupten, sollten die Gerüchte stimmen? Er war ein Elf, also vermochte er nicht zu lügen. Folglich musste sie jedes seiner Worte auf die Goldwaage legen. Er trug demnach weniger Magie in sich, als sie annahm. Dennoch verfügte er über welche. „Wie heißt du überhaupt?“ Vielleicht würde ihr sein Name ja etwas sagen.
„Kian.“ Er deutete eine Verneigung an. „Kian Taur von Sommerfeld.“
Ach du liebes bisschen! Sie war nicht irgendeinem Rebellen in die Arme gelaufen, sondern dem Rebellen. Nun wurde ihr klar, woher sie sein Gesicht kannte: von der Zeremonie. Mehr als einmal war er mit den anderen Wandersleuten aufgebrochen, um einen der Pfade zu bestreiten. Da Kian Taur von Sommerfeld in dem Ruf stand, die Rebellen anzuführen, würde der König ihm gern die Teilnahme an den Wanderungen untersagen. Das verbot jedoch die Tradition. Jedem sollte die Möglichkeit offenstehen, sich den Wandersleuten anzuschließen. Das war seit jeher so und würde auf ewig so bleiben. Die alten Statuten sahen allerdings vor, dass die Höhe des Lohns im Ermessen des Königs lag. Somit ließ er Kian Taur von Sommerfeld zwar losziehen, ihn aber jedes Mal aufs Neue leer ausgehen, wohl in der Hoffnung, dass er irgendwann aufgab. Dieser vermeintlich schlaue Schachzug spielte dem Elfen nur leider gehörig in die Karten. Durch die Weigerung des Königs, ihm Magie zuteilwerden zu lassen, hatte Kian eine gewisse Berühmtheit erlangt. Die einen sagten, er trete aus Trotz immer wieder an. Die anderen behaupteten, er wolle dem Volk die Ungerechtigkeit und Willkür des Königs vor Augen führen. Durch sein stoisches Handeln hatte ihm das Volk einen recht hochtrabenden Titel verliehen: Kian der Beharrliche nannten sie ihn. Und ebenjener lächelte sie nun tatsächlich charmant an! „Verrätst du mir auch deinen Namen?“
Aryana versuchte, irgendetwas Hinterhältiges in seinen Tonfall hineinzuinterpretieren. Vergeblich. Er klang einfach freundlich interessiert.
„Das nächste Mal.“ Mit einer vagen Handbewegung deutete sie zum Ausgang des Parks. „Ich muss dringend …“ Weiter kam sie nicht, denn nun schwirrte die Libelle direkt zwischen sie und Kian. Dort verharrte sie mit atemberaubend schnellen Flügelschlägen.
Der Elf riss die Augen auf und sah erst die Libelle, dann Aryana an.
„Nicht!“ Aryana sauste um das blaue Insekt herum und stellte sich Kian in den Weg. Als sie sich ihrer eigenen Dummheit bewusst wurde, weil sie als Fee kaum etwas gegen ihn ausrichten konnte, wandte sie sich der Libelle zu und hob ihre Arme, um einen Unsichtbarkeitszauber über sie zu werfen. So weit kam sie aber nicht. Eine kräftige Hand packte sie von hinten und hielt sie zurück. Aryana sah gerade noch, wie die Libelle erschrocken von der ruckhaften Bewegung davonbrauste, bevor erneut ein grünes Farbenspiel Aryana die Sicht nahm. War das irgendein magischer Trick von ihm, mit dem er seine Gegner kurzzeitig erblinden ließ?
Ihre zarten Flügel schmerzten unter dem festen Griff und mit allerlei Gefluche wand sie sich in seiner Hand.
„Na, na, na. Spricht so eine Hofdame?“ Er lockerte den Druck seiner Finger. Los ließ er sie trotzdem nicht, was gut war, da sie weiterhin nicht richtig sah. „Welchen Wunsch sollte sie dir denn erfüllen?“, fragte er ungehalten – vermutlich, weil sie die Libelle in die Flucht geschlagen hatte.
Als ihr Blick sich klärte, atmete sie erleichtert auf. Die Libelle war tatsächlich abgehauen. Und mit ihr der Wunsch, den er hatte einheimsen wollen. Ein Hochgefühl packte sie. „Lass mich los und ich sage es dir.“ Dass sie das blaue Naturwesen nicht für einen Wunsch hatte opfern wollen, würde er ihr wohl nicht glauben, das wäre aber sein Problem.
Zu ihrer Überraschung kam er ihrer Aufforderung nach. So schnell sie konnte, flog sie von ihm weg und merkte im nächsten Augenblick, dass sie sich nicht länger in ihrer Feenform halten konnte. Ihre Magiereserven waren erschöpft und bräuchten sicher zwei Stunden, um sich zu regenerieren. Aryana trat eilig den Sinkflug an, ehe ihre Flügel verschwanden und ihr Körper wuchs. Nach einem Ausfallschritt kam sie zum Stehen, Kian den Rücken zugewandt.
Sollte sie wegrennen? Es wäre zwecklos, er würde sie sofort einholen. Vielleicht erkannte er sie ja gar nicht. Bei den Zeremonien stand die Königsfamilie immerhin hoch über dem Volk auf einem Balkon.
Obwohl sie in ihrer menschlichen Form viel größer und widerstandsfähiger war, fühlte sie sich um einiges verletzlicher. So kostete es sie alle Kraft, sich zu ihm umzudrehen und seinem Blick zu begegnen. Natürlich prangte nun wieder der Soßenfleck auf ihrem Kleid, das war jedoch ihr geringstes Problem.
Die Wandlung, die sich in seiner Miene vollzog, sprach Bände. Er hatte sie erkannt. Und die Tatsache, dass keine Ehrfurcht in seine Züge trat, sondern Groll, besorgte sie aufs Äußerste. „Die Prinzessin!“, stieß er hervor und verengte die Augen. „Man sollte meinen, Ihr habt schon alles, was Ihr braucht. Was wolltet Ihr Euch über Euer opulentes Leben hinaus wünschen? Mehr Magie?“ Wie zum Hohn betonte er die förmliche Anrede, in die er gewechselt war.
Aryana könnte ihm einen langen Vortrag halten, dass sie von ihrem Vater keine Sonderbehandlung erhielt. Sie musste sich ebenfalls beweisen, um Magie zu erhalten, nur waren ihre Aufgaben anders gelagert, als einen Pfad von gefährlichen Tieren zu befreien oder einen Beruf am Hofe auszuüben. Nein, sie spielte den ganzen Tag die brave Thronfolgerin. Kians ablehnendem Gesichtsausdruck entnahm sie aber, dass seine Meinung über sie vorgefertigt war. Demnach sparte sie sich ihre Erklärungen. Immerhin war er Kian der Beharrliche. Also verlagerte sie sich auf die einzig sinnvolle Alternative, war sie auch noch so feige: Sie machte auf dem Absatz kehrt, nahm die Beine in die Hand und rannte los.
Nach einigen Metern hörte sie Clairys Kläffen, aber keine Schritte hinter sich. Ohne stehen zu bleiben, spähte sie über ihre Schulter. Kian stand an Ort und Stelle und sah ihr hinterher. Dabei war sein Blick so konzentriert und stechend, als würde er einen Zauber wirken. Das besorgte sie allerdings nicht zu sehr. Egal woher er seine Magie hatte, er war sicher nicht so mächtig, um ihr über diese Entfernung etwas anzuhaben. Somit eilte sie weiter und erreichte unbeschadet die Gasse, die von dem ummauerten Park zum Schloss führte.
Erneut blitzte etwas Blaues in Aryanas Nähe auf und sie ruckte mit dem Kopf herum. Augenblicklich wurde ihr Herz schwer. Die Wunschlibelle sank wie von einer unsichtbaren Last beschwert neben ihr zu Boden. Dort flatterte sie ein letztes Mal mit ihren Flügeln, ehe sie reglos liegen blieb. Hatte dieser Elf sich doch noch ihrer bemächtigt? Oder hatte jemand anderes sie erwischt? Kleines dummes Tier! Warum war sie überhaupt in die Stadt gekommen?
Aryana unterdrückte ihre Tränen, während sie sie vorsichtig aufhob. Sie würde sie mitnehmen und später auf dem Schlosshof begraben. Aber bis dahin musste sie erst einmal kommen.
Sie beschloss so zu tun, als würde sie zum Volk gehören, und durchschritt wie selbstverständlich die Menschenmenge. Allerdings hielt sie den ganzen Weg über den Atem an. Nicht auszudenken, welcher Tumult entstehen würde, sollte sie erkannt werden.
Ihr Plan ging auf. In ihrer geschäftigen Hektik gefangen, schenkten die Städter Aryana kaum Beachtung. Selbst als ein junger Kerl sie anrempelte, murmelte er lediglich eine Entschuldigung und hastete weiter. Am Schlosstor atmete sie erleichtert aus, denn Moritz hatte Wachdienst. Er war der Bruder ihrer Zofe Elly und würde dem König keinen Bericht erstatten. Wenn sie sich beeilte, konnte sie die Libelle gleich begraben, ehe sie zum Unterricht ging. Zwar würde sie es so nicht ganz pünktlich schaffen, aber wo Frederik für Süßkram empfänglich war, hatte ihr Lehrer eine Schwäche für antike Bücher, die sie regelmäßig für ihn aus der Schlossbibliothek auslieh. Alles würde gut werden! Nur für die kleine Wunschlibelle nicht. Für die würde nie wieder etwas gut werden.